Tuesday, 25 March 2014

Präsentismus: Wer in die Arbeit geht, ist nicht zwingend gesund

Krankenstandsdaten 
gelten in Firmen als zentraler Gesundheitsindikator.

Neueste Forschungen zeigen, dass Präsentismus – wenn Mitarbeiter krank arbeiten gehen – mindestens genauso relevant ist.

Es kratzt im Hals, die Nase rinnt, und Kopfschmerzen verhindern jeden klaren Gedanken: 
Soll man in Krankenstand gehen oder sich krank in die Arbeit schleppen? 
Möglich ist prinzipiell beides. 
Von der Wissenschaft wurde das Verhalten, trotz Krankheit arbeiten zu gehen, erst vor rund fünfzehn Jahren als Forschungsgegenstand entdeckt. 
Und was seither als „Präsentismus“ bezeichnet wird, ist nach wie vor international relativ wenig erforscht. 


Anders sieht die Lage beim „Absentismus“ – besser bekannt als Krankenstand – aus, der auf eine lange Forschungstradition zurückblickt. 
In der unternehmerischen Praxis gelten diese Daten, etwa zu Häufigkeit und Dauer von Krankenständen und Fehlzeiten, als wichtigste Maßzahl, um auf den Gesundheitszustand einzelner Mitarbeiter beziehungsweise der ganzen Belegschaft zu schließen. 
Jene, die zwar in die Arbeit gehen, aber nicht vollkommen gesund sind, werden dabei nicht berücksichtigt.
Dabei sieht es so aus, als würde der Blick auf Krankenstandsdaten und Abwesenheiten der Mitarbeiter nicht reichen. 
Denn neueste Forschungsergebnisse zeigen auf, dass der Präsentismus ein mindestens gleich wichtiger Indikator für Gesundheit ist wie der Krankenstand.

Erfassung schwierig. 
Wie häufig Präsentismus unter den heimischen unselbstständig Erwerbstätigen ist, variiert je nach Erhebung relativ stark. Das liegt daran, dass es nicht immer leicht ist, das Phänomen zu erfassen. 
Im Unterschied zum Absentismus, der auf konkreten Abwesenheitsdaten basiert, beruht die Messung von Präsentismus nämlich auf Selbsteinschätzung – was die Erfassung klarerweise erschwert. 
Wie etwa die Frage formuliert ist – ob jemand „krank“ oder „gesundheitlich beeinträchtigt“ zur Arbeit geht –, wirkt sich stark auf die Ergebnisse aus. 


33 bis 42 Prozent. 
So gaben 2010 beim 5th European Working Conditions Survey (EWCS) 33,7 Prozent der männlichen und 33 Prozent der weiblichen befragten österreichischen Arbeitnehmer an, im letzten Jahr krank arbeiten gegangen zu sein. 
Dieser europaweiten Umfrage zufolge ist Präsentismus in Montenegro (69,6 Prozent der Männer, 71,9 Prozent der Frauen) am stärksten und unter Portugiesen (19,5 Prozent) und Bulgarinnen (22,9 Prozent) am schwächsten ausgeprägt. 

Laut dem sogenannten Österreichischen Arbeitsgesundheitsmonitor 2009 gaben 42 Prozent der Beschäftigten an, im letzten Halbjahr krank in die Arbeit gegangen zu sein. 


Wirft man einen Blick auf die Branche, zeigt sich, dass Präsentismus besonders oft im Gesundheitswesen (59 Prozent), Verkehr und Transportwesen (51 Prozent) und im Handel (50 Prozent) auftritt. 
Womit das zusammenhängt, und welche Folgen sich daraus ergeben, kann aber nur seriös ermittelt werden, wenn Präsentismus und Absentismus zusammen analysiert werden
Solche Studien gibt es zwar, sie bilden jedoch eher die Ausnahme.

Meist wurden die beiden Verhaltensweisen, also zu Hause zu bleiben versus arbeiten zu gehen, nämlich als Gegensätze aufgefasst und auch getrennt voneinander erforscht. 
Das hatte zur Folge, dass viele Ursachen oder Folgen einseitig entweder dem Absentismus oder dem Präsentismus zugeschrieben wurden. 
Damit gehen manche Erkenntnisse über den Gesundheitszustand verloren. 


Es gibt Parallelen. 
„In jenen Studien, in denen beide Phänomene gleichzeitig analysiert wurden, stellte man eine positive Wechselbeziehung fest“, sagt Forscher Joachim Gerich von der JKU Linz

Ein konkretes Beispiel: 
Wenn etwa Arbeitsstress zu mehr Krankenstandstagen führte, traf dies auch auf die Anzahl der Tage zu, die Mitarbeiter trotz Krankheit arbeiten gingen. Die bisherigen Forschungsarbeiten basieren auf einem „Entscheidungsmodell“ als theoretischem Rahmen. 
Die individuelle Entscheidung zwischen Arbeitengehen und Zu-Hause-Bleiben steht dabei zusammen mit den beeinflussenden Faktoren (persönlich, tätigkeitsbezogen, die Organisation betreffend) im Mittelpunkt.

Erkranken im Fokus. 
Wegen Zweifeln an diesem Entscheidungsmodell entwickelte Gerich ein Simulationsmodell, bei dem nicht die Entscheidung, sondern der sogenannte health event, sprich das Erkranken, im Mittelpunkt steht. 
Es klingt recht plausibel: 
Wie häufig jemand in Krankenstand sei oder krank in die Arbeit gehe, hänge demnach in erster Linie von der Anfälligkeit, krank zu werden, sprich vom Gesundheitszustand, ab. 
Das Entscheidungsverhalten – zu Hause bleiben oder krank arbeiten gehen – spielt also zunächst einmal eine nachgeordnete Rolle. 
Was schließt der Forscher daraus? 
Dass die Häufigkeit von Präsentismus und Absentismus beides Indikatoren für den Gesundheitszustand der Mitarbeiter sind.



In einer empirischen Studie, der Oberösterreichischen Präsentismuserhebung, wurde diese theoretische Annahme überprüft. 
Das Ergebnis: 
„Beide, nicht nur der Absentismus, sind wichtige Vorhersagevariablen. Statistisch gesehen lassen sich damit rund 24 Prozent des Gesundheitszustands der Mitarbeiter prognostizieren“, so Gerich. 
Schwierig bleibt jedoch die Erfassung. Neben den Unschärfen, die durch die Selbsteinschätzung entstehen, komme erschwerend hinzu, dass auch die soziale Erwünschtheit von Krankenstand sowie Erinnerungslücken eine Rolle spielen.

Präsentismus als Leistung? 
Im Rahmen der Erhebung konnte außerdem erstmals verdeutlicht werden, welche Faktoren eindeutig nur den Präsentismus begünstigen. 
Einerseits sind es eher die Frauen, die zu diesem Verhalten neigen. Andererseits gehen Mitarbeiter vor allem dann öfter krank arbeiten, wenn das in einem Unternehmen als Leistung interpretiert wird. 
Weshalb man unweigerlich zur Frage gelangt, wie es um die Unternehmenskultur bestellt ist.

„Diese ist ein wichtiger Teil des psychosozialen Umfelds und kann berufliche Belastungen abfedern oder verstärken“, betont Thomas Leoni, Sozialforscher am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo).
Konkret heißt das: 
Wie jemand etwa mit steigenden beruflichen Belastungen umgeht, hängt nicht allein von ihm selbst ab.
„Ob Belastungen das Erkrankungsrisiko erhöhen oder nicht, wird auch davon bestimmt, wie die Arbeit gestaltet und organisiert ist – und welche Qualität die Unternehmensführung aufweist.“ 


Inwiefern verschiedene Aspekte von UnternehmenskulturFührungsqualität, soziale Unterstützung, Partizipation, Entscheidungsspielraum sowie Wertschätzung – mit Präsentismus und Absentismus zusammenhängen, hat Thomas Leoni empirisch analysiert
Grundlage waren die Daten des 5th EWCS, sowie der Arbeitsklimaindex und der Arbeitsgesundheitsmonitor 2008 bis 2011. 

Ein Ergebnis: 
„Wer sein betriebliches Umfeld negativ beurteilt, schätzt auch seinen Gesundheitszustand schlechter ein, geht überdurchschnittlich oft in Krankenstand und auch krank in die Arbeit.“

Was das Arbeiten trotz Krankheit für die Produktivität bedeutet, und was es ein Unternehmen tatsächlich kostet, versuchten vor allem Forscher aus den USA zu ermitteln. 

Ganz klar sind die Ergebnisse nicht: 
Man vermutet, dass es mehr kostet, als es bringt, wenn Mitarbeiter krank in die Arbeit gehen – allerdings sind laut JKU-Forscher Joachim Gerich „die Messungen mancher Untersuchungen problematisch“.



Forschungsbedarf besteht jedenfalls nach wie vor, denn viele Fragen sind noch offen. 
Etwa die, welche Gesundheitsfolgen nur mit Präsentismus in Zusammenhang gebracht werden können. 
Oder warum Frauen häufiger krank arbeiten gehen als Männer. 


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